Twitter-Sturm tost um Kemna-Gedenkstätte
Wegweiser zum Mahnmal. Foto: Wikimedia Commons, Frank Vincentz 2008 |
Ein Sturm von Kritik und Beschimpfungen hat sich auf der Internet-Plattform Twitter rund um Planungen für eine Gedenkstätte am früheren SA-Konzentrationslager in Wuppertal-Kemna entfacht. Im Mittelpunkt stehen die Wissenschaftlerin Dr. Ulrike Schrader, Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge und Lehrbeauftragte der Bergischen Universität, und eine Gruppe von Studierenden. Auslöser war ein Bericht auf einer Stadtteilseite der Westdeutschen Zeitung vom 16. Juni 2023.
In dem Beitrag schreibt eine Redakteurin von einem Treffen mit Schrader und der Gruppe. Diese hätten Ideen für eine Gedenkstätte in Kemna erarbeitet und ein Modell gebaut. Anstoß geben nicht nachvollziehbare Passagen über Aussagen der Gesprächspartner- und partnerinnen, darunter: "Die Einteilung in Täter und Opfer versuchen sie jedoch zu vermeiden. Denn die Grenzen seien schwammig. 'Natürlich hat niemand dieses Leid verdient', (...). Doch wurden auch Täter zu Opfern und umgekehrt." und: "Rund 80 Prozent der Häftlinge waren Kommunisten und damit auch Gegner der Weimarer Republik, also der Demokratie." Und schließlich: "Eine weiße Weste habe deshalb keiner."
Der Grund, warum diese Themen im Text angesprochen wurden - während der Gesprächsanlass ein anderer war - bleibt unklar, ebenso der weitere Sinnzusammenhang. In ihrem letzten Absatz benennt die Zeitung, dass die evangelische Kirche die Planung zur Gedenkstätte einem Büro übertragen hat. Sie ordnet mit Zitat von Schrader ein, dass unklar sei, welche Ideen der Studierenden für eine künftige Gedenkstätte berücksichtigt würden. Spätere Mitteilung mehrerer Stellen hingegen benannten klar, dass der Planungsprozess ausschließlich von der Kirche verantwortet wird. Die habe in diesem Zusammenhang ein Planungsbüro beauftragt; das Projekt der Studierenden war nicht Teil davon. Schrader verwendete im Hinblick auf die Arbeit ihrer Gruppe den Begriff "kreative Denkaufgabe" - im Sinne einer Lehrübung.
Zeitungs-Artikel im Internet
Drei Tage nach dem Erscheinen stellte ein Akteur oder eine Akteurin unter dem Twitter-Namen Geschichte Bergisches Land den abfotografierten Zeitungsartikel auf der Internet-Plattform ein und wertete ihn als "nicht so erfreulich". Folgende Twitter-Nachrichten unter dem selben Namen benannten Textstellen. Den Inhalt leiteten andere Nutzende weiter. Sie stellten Zitate oder einzelne Ideen der Studierenengruppe heraus. Andere ließen das fort und formulierten statt dessen als Unterstellung, was Schrader gemeint habe: Sie wolle die Opfer in Würdige und Unwürdige einteilen und Kommunisten ausschließen. Die Kritik wurde schnell unsachlich, angefangen bei "Haben die Lack gesoffen?" und "unfassbarer Müll". Binnen Stunden steigerte sich das zu persönlichen Beschimpfungen. Ziel der Schmähungen wurde neben Schrader die Bergische Universität. Sie sei mitverantwortlich. Beide wurden in den Zusammenhang des Nationalsozialismus gestellt.
Vier Tage später hatten eine Vielzahl von Gruppen das Thema aufgegriffen. Der frühere Bundestagsabgeordnete und gebürtige Wuppertaler Niema Movassat (Die Linke, Oberhausen/Wesel), der Fernseh-Journalist Arnd Henze, Politik-Wissenschaftlerin Natascha Strobl und Historikerinnen und Historiker aus dem ganzen Bundesgebiet beteiligten sich auf ihren persönlichen Twitter-Seiten.
Niemand beschrieb Versuche, zu prüfen, inwieweit Zitate und Darstellung authentisch waren oder im richtigen Zusammenhang standen. Die Universität erklärte in einer offiziellen Stellungnahme, sie werte Formulierungen des Beitrags als "ausgesprochen irritierend". Ulrike Schrader stellte in der Mitteilung klar: "Jeder Häftling, der in Kemna einsaß, war zu Unrecht dort." Der Zeitungstext bringe einen "seitens der Berichterstattung besonders unglücklich verkürzten und missverständlich verknüpften Wortlaut". Die Fachsprecherin Geschichte der Uni, Professorin Dr. Juliane Brauer, fügte im Hinblick auf die Tätigkeit der Studierendengruppe hinzu: "Die Be- und Verurteilung dieser Arbeit auf der Grundlage von fälschlichen Darstellungen eines Artikels ist entschieden zurückzuweisen."
Wechselseitige Zuweisung von Verantwortung
Die Twitter-Wellen liefen dagegen ungebrochen weiter. Tenor im Netz blieb, man glaube eher der Zeitung. Die schrieb in einem zweiten Artikel über das Internet-Echo und erklärte, die Bergische Uni ziehe sich aus der Verantwortung: "Die nun bemängelte Verknüpfung stammt (...) von den Gesprächspartnern selbst, also von den Studentinnen und Studenten sowie Ulrike Schrader." Der Artikel führte nicht an, dass die Textpassagen oder der Zusammenhang von den Zitierten bestätigt oder freigegeben gewesen sei.
In einer weiteren Veröffentlichung der Uni am Freitagnachmittag (23. Juni 2023) erklärte Ulrike Schrader: Die Arbeit der Gruppe über die vielschichtigen Abläufe der Jahre 1932 und 1933 sei fordernd gewesen. Sie zusätzlich an die Presse vermitteln zu wollen, habe rückblickend eine Überforderung dargestellt. Ihr Fazit: "Es hätte in meiner Verantwortung gelegen, das Pressegespräch zu strukturieren, zu steuern und sicherzustellen, dass wir adäquate und druckreife Formulierungen anbieten." Im Nachhinein sehe sie es als Fehler an, die Presse zu einem Werkstattprozess eingeladen zu haben. Sie "bitte die Studierenden, die dadurch in der Öffentlichkeit in die Schusslinie geraten sind, um Entschuldigung." Schrader fügte hinzu: "Wer im ‚KZ-Kemna‘ Täter und wer Opfer war, steht außer Frage!"
Weitere Entschuldigung gefordert
Dem folgten weitere Presse-Reaktionen nach. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Wuppertal bezog sich am Samstagmorgen (24. Juni) auf Verhalten von Teilen der evangelischen Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus und erklärte: "Jetzt ist klar, dass die Täter-Opfer-Umkehr und die Diffamierung der Inhaftierten durch Frau Dr. Schrader und die Studierenden dazu dient, diese Schuld der evangelischen Kirche selbst unsichtbar zu machen. Denn die evanglische Kirche war als rechter Akteur, als wichtiges deutschnationales Milieu selbst Feind der Weimarer Demokratie und Anhänger des Autoritarismus." Der VVN-BdA erwarte eine Entschuldigung bei den Familien der Opfern durch die evangelische Kirche.
Die Superintendentin des evangelischen Kirchenkreises Wuppertal und Vorsitzende der Steuerungsgruppe des Projekts Gedenkort Kemna, Pfarrerin Ilka Federschmidt, äußerte sich in einer öffentlichen Stellungnahme am 25. Juni: Der evangelischen Kirche in Wuppertal sei die schwere Schuld und ein Versagen der damaligen evangelischen Kirche gegenüber den kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Inhaftierten im KZ Kemna bewusst. Gerade darum habe sie die Verantwortung zur Ermöglichung und Entwicklung des Gedenk- und Lernortes auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers übernommen: "Die im Artikel zitierte Auffassung, dass im Blick auf die damals in Kemna inhaftierten Kommunisten Opfer und Täter nicht klar zu unterscheiden seien, entspricht in keiner Weise der klar geäußerten Position der evangelischen Kirche als Träger des Projektes (...)."
Federschmidt erklärte, die Vorgänge hätten einen völlig falschen Eindruck erzeugt. Sie würden intern mit den Verantwortlichen aufgearbeitet und es würden Konsequenzen daraus gezogen.
Der Vorstand des Trägervereins der Begegnungsstätte Alte Synagoge kündigte ebenfalls eine Aufarbeitung an. Verantwortlich für die Veranstaltung mit den Studierenden und die sich anschließende Öffentlichkeitsarbeit sei Ulrike Schrader. Sie hätte die Studierenden schützen müssen. Der Vorstand werde mit Schrader gemeinsam "erarbeiten, wie wir sicherstellen, dass sich in der Zukunft solche Vorgänge nicht wiederholen."
Der Vereinsvorstand erläuterte im Hinblick auf die Begegnungsstätte Alte Synagoge: "Es geht uns nun darum, den für unsere Einrichtung entstandenen Schaden aufzuarbeiten und zu begrenzen". Er stellte klar: "Allen Opfern in der Kemna gehört unsere Empathie, unsere Solidarität und unsere Hochachtung für ihre unbeugsame Haltung gegenüber einem gewalttätigen Regime, deren Vertreter ihnen als identifizierbare Täter in der Kemna unermessliches Leid zufügten."
Montag (3. Juli 2023) brachte die WDR-Lokalzeit einen Beitrag zu dem Ablauf. Der Sender berichtete auf dem Stand der vorvergangenen Woche, ohne auf die Klarstellungen des Kirchenkreises und der Begegnungsstätte Alte Synagoge näher einzugehen. Die Rolle des sozialen Netzwerks Twitter vom Hochkochen des Konflikts blieb unerwähnt.
An den beiden Folgetagen machte die Superintendentin Federschmidt in Mitteilungen die Absicht der Kirche erneut klar. Es kam zu Veröffentlichungen im Evangelischen Pressedienst und auf der Webseite des Kirchenkreises.
Für Sonntag, 9. Juli 2023, kündigten mehrere Gruppen eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Kemna am KZ-Mahnmal an.
Foto: Mahnmal KZ Kemna in Wuppertal von Frank Vincentz, 8. Februar 2008, lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported - zugeschnitten
Stand 7. Juli 2023. Erstmals veröffentlicht 26. Juni 2023.
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