Zettel

Die Kerze

Kerze.jpg: 800x533, 171k (23. Dezember 2012)
Grafik: Dirk Lotze

Der kleine, rundliche Bäckereiverkäufer runzelt die Stirn und beugt sich über die Theke vor. „Haben die da Feuer gemacht?“, fragt er seine junge Kollegin. Es klingt wie eine Mischung aus Sorge um den Laden und Skepsis, ob er richtig gesehen hat. In der hintersten Ecke der Bäckerei, wo es am wenigsten zieht, sitzt sich ein Paar an einem Zweiertisch gegenüber. Er trägt einen buschigen Bart, seine Jacke glänzt speckig, fünf abgeschabte Plastiktüten stehen neben seinem Stuhl. Seine Frau trägt ihr hüftlanges, graues Haar offen, schaut zu ihm rüber und nimmt seine Hand. Auf einem Papptellerchen zwischen den Beiden brennt eine einzige Kerze.

Es ist ein Winternachmittag in Wuppertal. Die Stadt ist nass vom Nieselregen, den ganzen Tag ist es nicht richtig hell geworden. Der kleine Bäckerladen versorgt Reisende im Hauptbahnhof, in der Passage, vier Meter tief im Fels. Es rumpelt, als oben ein Intercity abfährt. Vor dem Eingang zur Bäckerei liegt ein Kiosk, Anziehungspunkt für allerlei Leute im Bahnhof. An seinem Schalter verkauft eine Frau Wodka und Energydrinks, billiges Bier und eigentlich sogar Kaffee. Wer einen Deckel für seinen Pappbecher möchte, zahlt 20 Cent mehr. Darüber informiert ein Zettel im Fenster.

„Die haben wirklich eine Kerze“, sagt die junge Verkäuferin. Sie schaut nochmals aufmerksam zu dem Paar am Tisch, dann fragend zu ihrem Kollegen. Der antwortet ihr nicht. Er ist auf einmal ganz beschäftigt mit einem Blech Rosinenschnecken.

Zuletzt geändert am 21. Juni 2014