Dirk Lotze - Journalist
Personalmangel in der Staatsanwaltschaft: Mitarbeiter bekam Anklage statt Hilfe

Schreiben

Personalmangel in der Staatsanwaltschaft
Mitarbeiter bekam Anklage statt Hilfe

Wuppertal, März 2020

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Die Staatsanwaltschaft in Wuppertal ist zuständig für Strafverfolgung und -vollstreckung in Wuppertal, Solingen, Remscheid und einem Teil des Kreises Mettmann. Archivfoto: Dirk Lotze

Wuppertal. Ein Jurist der Staatsanwaltschaft Wuppertal muss sich vor einem Strafrichter verantworten: Der seit mehr als 38 Jahren tätige Beamte sollte vorsätzlich einen drogenkranken Verurteilten zu lange in Freiheit gelassen haben, den er nur aus den Akten kannte. Nach einem ersten Freispruch 2020 legte die Staatsanwaltschaft erfolgreich Revision ein. Nun muss das Amtsgericht Remscheid neu verhandeln.

Der Angeklagte ist ein in Wuppertaler Justizkreisen höchst angesehener Sachbearbeiter und Spezialist der Behörde. Der Hintergrund: Laut Aussagen 2020 war die Personalausstattung der Staatsanwaltschaft "katastrophal", der Angeklagte sei extrem überlastet gewesen. In der ersten Verhandlung vor dem Amtsgericht Wuppertal stellte der vorsitzende Richter fest: "Die Situation war der Leitung bekannt, Abhilfe gab es nicht" - und zwar sogar über Besetzungswechsel hinweg. Der Angeklagte (62) hatte nach einem Personalgespräch statt Unterstützung die Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt erhalten.

Der 62-Jährige ist Fachjurist und als Rechtspfleger verantwortlich für die Durchsetzung von Strafen, die rechtskräftig geworden sind. Die Vorwürfe gegen ihn drehten sich um einen Fall, der ab 2010 fünf Jahre auf seinem Tisch lag: Das Verfahren gegen einen Mann wegen Raubes im Jahre 2001. Er hatte "Therapie statt Strafe" beantragt: Er wolle mehrere Jahre Gefängnis vermeiden, durch Drogenentzug in einer Klinik. Laut Wertung im Nachhinein hätte der Mann womöglich statt dessen in Haft gehört. Zeugen zufolge fiel die Akte erstmals nach Jahren auf, als ein anderer Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft sie als Stellvertreter vorübergehend vorliegen hatte. Der Angeklagte erklärte, ihm hätten Informationen für den Fall gefehlt: "Ich musste prüfen, ob die Voraussetzungen für die Zurückstellung des Strafvollzugs vorliegen und ebenso, ob dem etwas entgegen steht." Er habe zusätzliche Unterlagen angefordert. Antworten aus anderen Abteilungen und weiteren Behörden hätten teils Monate gebraucht. Schließlich habe er den Überblick verloren. Seine Sorge: Ein Fehler von ihm wäre womöglich Freiheitsberaubung am Verurteilten gewesen.

Mehr als 40 Behördenangehörige unterstützten
ihren Kollegen vom Zuschauerraum aus

Zur Verhandlung im Wuppertaler Gerichtssaal war die Atmosphäre zum Bersten gespannt: Mehr als 40 Staatsanwälte, Amtsanwälte und Rechtspfleger der Staatsanwaltschaft Wuppertal verfolgten die Sitzung vom Publikum aus. Sie waren alle sichtlich auf der Seite des 60-Jährigen. Leitung und Büronachbarn erschienen im Zeugenstand, die Anklage vertrat ein Staatsanwalt aus Krefeld.

Übereinstimmend beschrieben die Aussagen die Situation im Büro des Angeklagten als extrem: Es sei voller Akten gewesen. Auf der Heizung, auf dem Boden - überall Papier. Man musste drüber steigen, um zum Schreibtisch zu kommen. Der Angeklagte sei höchst kompetent in rechtlichen Fragen, dabei extrem genau. Er fand Fehler, die andere übersahen. Und er half jedem Kollegen gern, schnell, zuvorkommend und qualifiziert. Eine Oberstaatsanwältin erläuterte: "Er war mein Telefon-Joker, wenn ich mal was wissen musste." Staatsanwälte berichteten, dass auch sie regelmäßig bis in den Abend arbeiteten, um die Arbeit zu schaffen - wie der Angeklagte. Und dass sie dann an der Pforte noch auf ihn warteten, damit er nicht eingeschlossen würde. Er sei am Wochenende im Büro erschienen, auch noch nachdem die Behördenleitung es ihm verboten hatte.

Ratschläge von Vorgesetzten,
Ermahnung, schneller zu machen

Mehrere Zeugen vermuteten, die Genauigkeit habe den 62-Jährigen gebremst. Ein Vorgesetzter soll dem Mann einen Zettel ins Zimmer gehängt haben: "Nicht Akten lesen - Entscheidungen treffen!" Der Angeklagte habe im Kollegenkreis kommentiert: Geholfen habe ihm das nicht. Einmal soll die Behördenleitung dem Mann einen Kurs in Zeitmanagement nahe gelegt haben.

Laut einem Gerichtspsychiater ist der 62-Jährige hoch leistungsfähig. In Tests habe er schnell, präzise und konzentriert gearbeitet. Es gebe Zeichen, dass er sich tatsächlich übergroße Angst vor Fehlern mache. Er habe sich eigene Mechanismen geschaffen, um nicht unter der Last zu erkranken.

Der Mann selbst erklärte, er sei mit den Akten in dem Sinn zurecht gekommen, dass er Freizeit und Familienleben dran setzte. Auf der anderen Seite sei aber noch die Vertretungsarbeit für andere Abteilungen dazu gekommen. So seien jahrelange Bearbeitungszeiten entstanden. Eine Staatsanwältin berichtete: Vor einem Urlaub habe sie mit einem weiteren Staatsanwalt dem Kollegen geholfen, wenigstens noch einmal alle Aktenstapel durchzusehen, damit keine Fristen verstrichen. Ihr Fazit: "Es war anders nicht zu schaffen."

Personalärztin stellte
unzumutbare Arbeitsbedingungen fest

Laut Zeugenaussagen stellte 2015 eine Personalärztin fest: Es sei nicht mehr zu verantworten, den Rechtspfleger unter diesen Bedingungen weiter arbeiten zu lassen. Der Anwalt des Mannes fragte den früheren stellvertretenden Behördenleiter, der kurz darauf das Strafverfahren eingeleitet hatte und der inzwischen bei einer anderen Behörde arbeitet: "Und? Was haben Sie getan, damit es wieder verantwortet werden konnte?" Die Antwort: "Ich habe da keine Erinnerung dran." Der im Jahr 2020 leitende Oberstaatsanwalt war damals grade drei Monate als Chef im Amt. Er antwortete auf die gleiche Frage: "Ich glaube, dass geplant war, etwas nach seiner Rückkehr aus der Krankschreibung zu unternehmen."

Laut Zeugen führte die Staatsanwaltschaft zumindest 2020 noch eine "Sechs-Wochen-Resteliste", um versandete Akten in Büros wieder zu finden. Das System sei kompliziert und funktioniere nicht immer. Ein anderer Rechtspfleger sagte über seine Arbeitssituation aus: "Ich habe zwischen 2000 und 2010 fünf Mal Überlastungsanzeigen geschrieben. Ich habe das dann nicht mehr fortgesetzt, nachdem ich nicht mal mehr Antwort bekommen habe." Ein Vorgesetzter habe ihm sogar gesagt: "Lassen Sie das sein. Wir können damit nichts anfangen." Der Zeuge fügte hinzu: "Ich spreche da offen drüber. Viele sagen nichts, aus Angst, dass sie Nachteile davon haben."

Die Wertung der Personallage als "katastrophal" führte in der Verhandlung schließlich sogar der Staatsanwalt aus Krefeld an, der die Anklage vertrat. Seine Sicht: "Das ist insgesamt eine Situation, die ich kenne. Und zusätzlich wird alles seit 20 Jahren kaputt gespart."

Freispruch wird angegriffen

Das Amtsgericht Wuppertal sprach den 62-Jährigen frei. Der vorsitzende Richter wertete die Angaben des Rechtspflegers zu seiner Arbeitssituation als zutreffend. Es sei nicht einmal erkennbar, warum er eine Strafvereitelung gewollt haben sollte. Der Verteidiger des Angeklagten hatte ausgeführt: "Nie im Leben hatte er so einen Vorsatz. Mein Mandant ist ein redlicher Beamter." Und: "Arbeit, die über die Leistungsfähigkeit hinaus geht, darf nicht verlangt werden."

Nach der Urteilsverkündung war Angeklagtem wie seinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Zuschauerraum die Erleichterung anzusehen.

Die Staatsanwaltschaft Krefeld legte erfolgreich Revision ein: Das Oberlandesgericht hat das Urteil wegen eines Rechtsfehlers aufgehoben und zur neuen Verhandlung an das Amtsgericht Remscheid verwiesen. Die Verhandlung läuft seit dem 16. November 2023. Fortsetzung am 30. November 2023, 9 Uhr, Amtsgericht Remscheid, Alleestraße 119, Remscheid, Saal A1.

Amtsgericht Wuppertal, 15 Cs 115/17, Urteil vom 3. März 2020. Vorsitzender Richter: Christian Podeyn. Staatsanwalt: NN. Psychiatrischer Gutachter: Prof. Dr. med. Pedro M. Faustmann. Verteidigung: Rechtsanwalt Michael Kaps.


Zuletzt bearbeitet 17. November 2023, erstmals veröffentlicht 4. März 2020
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Zuletzt geändert am 17. November 2023