Dirk Lotze - Journalist
Autonomes Zentrum: Ein Klischee wird zum Feindbild

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Autonomes Zentrum: Ein Klischee wird zum Feindbild

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Das Autonome Zentrum an der Gathe Ecke Markomannenstraße in Wuppertal-Elberfeld. Foto: Dirk Lotze

Wuppertal, April 2018

Ein Ort für Chaoten, an dem sie sich mit Dosenbier besaufen; ein Bunker für gewalttätige Anarchisten, die mit niemandem reden und die bürgerliche Ordnung bekämpfen: So sieht das Zerrbild vom Autonomen Zentrum in Wuppertal aus. Dabei widersprechen Fakten der empörungsvollen, veröffentlichten Meinung in jedem Punkt. Schon was mutmaßlich bundesweite Verbindungen bei der massiven Gewalt 2017 in Hamburg betrifft, teilt das Polizeipräsidium mit: „In Wuppertal ist niemand von Ermittlungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel betroffen.“

Das Haus des Autonomen Zentrums (AZ) an der Gathe in Elberfeld gehört der Stadt. Die Nutzer verwalten es unabhängig. Es ist ein kultureller, linksgerichteter und politischer Ort. Die Aktivisten stimmen sich zu Programmen, Öffnungszeiten und Angeboten ab, machen alles selbst und stützen sich auf Spenden. Laut einer Eigendarstellung gilt der Grundsatz, möglichst einig zu arbeiten: das Konsens-Prinzip.

Der Grund liegt in der Geschichte des Zentrums, das die Akteure bis 1973 zurück verfolgen: Jugendliche wünschten sich eigene Orte, außerhalb von Kirchentreffs und teuren Kneipen. Wenige hatten ein eigenes Zimmer in einer Zeit, in der bundesweit selbstverwaltete Jugendzentren entstanden.

Zeitstrahl: AZ - selber machen seit 1973

Die Aktivistinnen und Aktivisten engagieren sich für jegliche Themen, die gesellschaftlich wichtig sind: fairer Handel und Umweltschutz, Ausbeutung und Armut, Militarismus, Sexismus, Rassismus, Nazis. Sie organisieren Diskussionsrunden und Arbeitsgruppen inklusive Küche. Viel vom Gesamtauftritt prägt die Musik. Die bunt besprühte Erdgeschoss-Fassade ist Platz für Bekanntmachungen und Plakate.

Auf der anderen Seite ist das Misstrauen groß. Bei jeglichen, mutmaßlich linksgerichtet-politischen Straftaten in der Stadt unterstellte die lokale Westdeutsche Zeitung 2017 und 2018 eine Verbindung zum Autonomen Zentrum. Das gilt für rund 100 Farbschmierereien mit Sprüchen und anarchistischen Symbolen, außerdem für einen Buttersäure-Angriff auf die Baustelle der künftigen Innenstadtwache an der Schloßbleiche. In die selbe Reihe gehöre ein Farbangriff auf mehrere Parteibüros, im Frühjahr des selben Jahres.

Kein rechtsfreier Raum, aber auch kein Verdacht auf Straftaten

Der Vorwurf ans AZ kam sogar nach einem simplen Protest von linken und bürgerlichen Gruppen gegen einen Auftritt der AfD in einem Café an der Luisenstraße, im März 2017. Der Abend war laut verlaufen; um Gewalt ging es dabei nicht. Eine 40 Jahre alte linke Aktivistin wurde später wegen Beleidigung verurteilt.

Bei keinem dieser Abläufe stand das Autonome Zentrum im Brennpunkt von Ermittlungen. Das AZ ist kein rechtsfreier Raum: Es ist ein städtisches Gebäude, das Polizisten laut Gesetz während der Öffnungszeiten betreten dürfen. Einen Anlass bräuchten sie nicht zu nennen. Das hat das Amtsgericht 2017 festgestellt.

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Fassade des Hauses von der Markomannenstraße aus gesehen. Foto: Dirk Lotze

Die Polizei durchsuchte das AZ zuletzt am 11. April 2015, nach einem beinahe tödlichen Messerangriff von drei rechtsextremen Männern auf einen Besucher. Laut Staatsanwaltschaft fanden die Beamten im Haus „verbotene Gegenstände in Form von mit Schrauben gespickten Schlagstöcken“. Die Beschreibung könnte ebenso gut auf unsachgemäß reparierte Stuhlbeine passen. Es folgte ein vorübergehendes Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz.

Nicht einmal Drogen erwähnte die Anklagebehörde. Nutzer des Zentrums berichteten von vermummten Polizisten, die bei ihrer Aktion hektisch um sich blickten und fragten: „Sind hier Fallen? Wo sind die Fallen?“ Albern hätten sie das gefunden. Freunde des AZ informierten nach dem Angriff der Rechten in einer Pressekonferenz und stellten sich einer Podiumsdiskussion im Rathaus. Ihre Beschwerden über das Verhalten der Behörden nahm die Öffentlichkeit erst Monate später ernst.

Treffpunkt für Besucher mit unterschiedlichem Hintergrund

Das AZ an der Markomannenstraße nutzen Wuppertalerinnen und Wuppertaler jeden Alters und Einkommens. Ein Teil studiert oder arbeitet in Unternehmen und Behörden, andere gehen zur Schule. Gäste kommen aus der ganzen Region. Und ja - sogar Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind dabei: Einige besuchen das AZ in ihrer Freizeit. Einen städtischen Einfluss gibt es im Haus nicht. Er wäre widersinnig, wo es ums Selbermachen und Selbstverantworten geht.

Wuppertaler treffen sich darüber hinaus an vielen Stellen in der Stadt. Möglich, dass jemand, der Straftaten beging, das Haus an der Markomannenstraße nutzt. Ebenso willkürlich ließe sich unterstellen, dass er die Sparkasse besucht oder eine Eckkneipe. Und was das Dosenbier betrifft: Das mag es geben, wenn Gäste welches mitbringen. Zum AZ passen Pfandflaschen besser.


Update Juni 2020

Unter Datum vom 12. Juni 2020 berichtete der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen zu den Autonomen Zentren in Aachen, Köln, Mülheim an der Ruhr und Wuppertal an den Landtag. Diese Zentren seien bedeutsam für die Kommunikation, Willensbildung und Protest- und Kampagnenplanung in der Szene. Es werde sogenannte logistische Unterstützung bei größeren Aktionen organisiert, beispielsweise in Köln für Aktionen im rheinischen Braunkohlerevier. In der Kriminalitätsstatistik der Städte spielten die Autonomen Zentren hingegen kaum eine Rolle. Es lägen dem Ministerium keine Informationen darüber vor, dass in Autonomen Zentren Straftaten geplant und vorbereitet würden. Dies geschehe in der linksextremistischen Szene im Verborgenen.
(Landtagsdrucksache 17/3504)

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Zuletzt geändert am 12. Februar 2023