Dirk Lotze - Journalist
"Parallelfälle" mit Unterschieden - Todesfälle im Bereich von Polizei und Justiz

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"Parallelfälle" mit Unterschieden

Todesfälle im Bereich von Polizei und Justiz

index.jpg: 1024x536, 77k (07. Januar 2022)

Wuppertal. Im Zusammenhang mit dem tragischen Tod eines 25 Jahre alten Mannes Anfang November 2021 in einer Polizeizelle in Wuppertal verwiesen Initiativen gegen Polizei und Justiz auf angebliche Parallelfälle. Es bestünden Ähnlichkeiten zu Geschehnissen um andere Personen in staatlicher Obhut in Nordrhein-Westfalen. Schuld seien die Politik, die ausführende Staatsgewalt insgesamt oder einzelne Beamte. Ich nahm die Behauptungen zum Anlass für eine Recherche, und ging der Frage nach: Welche Hinweise auf wenigstens mögliche Parallelen gibt es?

Das Ergebnis ist ein vielschichtiges Bild statt einer einfachen Antwort. Ein Muster fehlt: Neben oberflächlichen Übereinstimmungen durch Bezug zu Behörden und dem bedauerlichen Umstand, dass jemand starb, gibt es gerade bei Vorfällen im Bereich der Polizei viele, wesentliche Unterschiede hinsichtlich Ort, Zeit, Art der Umgebung, Situation während des Notfalls, beteiligten Personen, Beeinflussung durch Drogen und Erkrankungszustand der Verstorben.

Inhalt

Todesfälle im Verantwortungsbereich der Polizei

Die Polizei hält Personen auf unterschiedlicher Grundlage fest und beschränkt sie in ihrer Freiheit; zum Beispiel aufgrund des Polizeigesetzes um eine Gefahr abzuwehren, nach einem Platzverweis oder zur Personalienfeststellung. Die Betroffenen befinden sich rechtlich im sogenannten Polizeigewahrsam; das bedeutet oft Aufenthalt in einer Zelle, in einem Polizeitransporter oder Behördengebäude.

In dieser Situation kommen in unterschiedlichen Abständen Personen zu Tode. Jeder solche Vorfall löst in Nordrhein-Westfalen neben Ermittlungen und Mitteilungen an die Angehörigen eine Meldung an das Innenministerium des Landes aus, außerdem an das Landesamt für zentrale polizeiliche Dienste. Die Frist dafür beträgt zwei Stunden, Zweck sind laut Ministeriums-Verordnung "zeitgerechte politische, strategische, aufsichtliche sowie taktische Bewertungen und Entscheidungen". Die Öffentlichkeit kann die Fälle einerseits über die Medien verfolgen, andererseits anhand der öffentlichen Mitteilungen der Landesregierung an den Landtag. Dazu kommt es immer, wenn Landtagsmitglieder Anfragen stellen.

Berichte der zurückliegenden Vorfälle belegen einerseits insoweit Gemeinsamkeiten, als Beamte beteiligt waren. Andererseits nennen die Nachrichten wesentliche Unterschiede:

  • 1. November 2021: Ein 25 Jahre alter Mann bricht im zentralen Polizeigewahrsam in Wuppertal in Gegenwart eines Arztes zusammen und verstirbt. Zuvor war ihm eine Blutprobe entnommen worden. Der Verstorbene hatte Amphetamin, Kokain und Cannabis konsumiert und soll an einer Herzerkrankung gelitten haben. Bei seiner Festnahme hatte die Polizei körperliche Gewalt angewendet. Laut Obduktionsergebnis der Rechtsmedizin sind deren Folgen als Todesursache auszuschließen.
  • Ende November 2021 informiert die Staatsanwaltschaft Köln, dass fünf Polizisten der Wache Köln-Ehrenfeld bei einem Einsatz vom vorangegangenen April einen 59 Jahre alten Kölner vorsätzlich und rechtswidrig angegriffen und schwer verletzt haben sollen. Der Mann verstarb zwei Monate darauf nach Aufnahme in einer Klinik in Euskirchen. Dass er in einer Polizeizelle gewesen sei, wurde nicht berichtet. Sein Tod löste Ermittlungen aus. Im Ergebnis wurden die Kölner Beamten suspendiert und müssen sich in Straf- und Disziplinarverfahren verantworten, erläuterte Innenminister Herbert Reul (CDU) im Landtag. Es gebe Hinweise, dass sie sich über Handy-Nachrichten untereinander und mit weiteren Beamten bekräftigend über Gewalthandlungen ausgetauscht hätten. Einer von ihnen soll zuvor in anderem Zusammenhang bereits einmal seines Dienstes enthoben gewesen sein.
Suspendierung von Polizeibeamten in Köln
Bericht des Innenministers vom 25. November 2021 im Landtag Nordrhein-Westfalen
Offizielles Ausschussprotokoll im Dokumentenarchiv des Landtags:
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMA17-1646.pdf
  • 4. Dezember 2021: Ein 19-jähriger Mann wird leblos in einer Zelle des Polizeigewahrsams in Köln-Kalk aufgefunden, kurz bevor er entlassen werden soll. Er soll unter dem Einfluss von Medikamenten, Alkohol und weiteren Drogen gestanden haben. Zuletzt zehn Minuten vor seinem Tod habe eine Kontrolle keine Auffälligkeiten ergeben.
  • 20. Dezember 2021: Ein 24 Jahre alter Mann erleidet auf dem Weg ins Polizeigewahrsam Düsseldorf einen medizinischen Notfall. Er verstirbt mehrere Stunden später in einer Klinik. Er soll sich bei seiner Festnahme körperlich widersetzt haben. Laut Gerichtsmedizin hatte er keine Verletzungen, die zu seinem Tod geführt haben können.

Aus Januar 2018 gibt es zwei Berichte über Todesfälle von Festgenommenen im Polizeigewahrsam: In Essen verstarb ein Mann, der randaliert hatte und angegeben haben soll, Crystal Meth konsumiert zu haben. In einer Zelle in Gummersbach starb ein Familienvater nach einer Festnahme im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Laut Bericht des Innenministers hatte er angegeben, alkohol- und heroinabhängig zu sein. Ein Atemalkoholtest hatte 1,1 mg Alkohol pro Liter ergeben, entsprechend ungefähr 2,2 Promille Blutalkohol. Geschehnisse bei der Festnahme wurden durch Obduktionsergebnisse jeweils als Todesursache ausgeschlossen.

Das Innenministerium kam damals in einer Information für den Landtag zu dem Schluss, es könne bei Einhaltung der vorgeschriebenen Kontrollmechanismen nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass Personen im Polizeigewahrsam aufgrund eines plötzlichen medizinischen Notfalls versterben. Dem schloss sich der Innenausschuss des Landtags an. Eine Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen wurde nicht gefordert.

Hintergrundinformationen zu den Todesfällen im Polizeigewahrsam in Essen und in Gummersbach
Bericht des Innenministers vom 25. Januar 2018 im Landtag Nordrhein-Westfalen
Öffentliche Vorlage 17/485 im Dokumentenarchiv des Landtags:
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-485.pdf

recht.nrw.de im Internet: Meldung wichtiger Ereignisse (WE-Meldung)
Runderlass des Ministeriums des Innern NRW vom 2. November 2018
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?anw_nr=1&gld_nr=2&ugl_nr=2054&bes_id=39744&val=39744&ver=7&sg=0&aufgehoben=N&menu=0

Situation in Justizvollzugsanstalten

In den Gefängnissen Wuppertal-Vohwinkel, Wuppertal-Ronsdorf und Remscheid kamen 2021 im Zusammenhang mit Inhaftierungen sechs Gefangene zu Tode. Darüber hinaus wurde der Verdacht von sexuellen Übergriffen eines Mannes in der Anstalt Ronsdorf bekannt, der Gegenstand eines laufenden Strafprozesses vor dem Landgericht Wuppertal ist. Das ergibt sich aus einem Bericht des Justizministers an den Landtag über Todesfälle, schwere Gewalt und Straftaten im Verantwortungsbereich der Anstalten.

In einem Fall kam es in Vohwinkel zu Feuer in einer Zelle, das laut Abschlussergebnis der Ermittlungen fahrlässig durch eine unsachgemäß abgelegte Zigarette verursacht wurde. Bezogen auf die Anzahl der Haftplätze hatten der Aufstellung zufolge 70 Prozent der Justizvollzugsanstalten des Landes im vergangenen Jahr geringere Belastungen durch solche schweren Vorfälle, als die Gefängnisse Remscheid und Wuppertal-Ronsdorf. Wuppertal-Vohwinkel schneidet in der Quote besser ab, liegt aber im oberen Drittel. Die Größe der Einrichtungen ist mit jeweils etwas mehr als 500 Haftplätzen im geschlossenen Vollzug vergleichbar. Statistisch sind die Zahlen der drei Anstalten für Gefängnisse in Nordrhein-Westfalen noch als durchschnittlich anzusehen. Jeder einzelne Fall zieht eingehende Ermittlungen nach sich.

Bei dem Geschehen um einen Verstorbenen aus Remscheid ist die medizinische Todesursache nicht mehr feststellbar, Fremdverschulden wird aber ausgeschlossen. In insgesamt zwei Fällen dauern die Ermittlungen an - vom April 2021 in Remscheid und von Dezember 2021 in Wuppertal-Vohwinkel. Zum Vorgehen erläuterte die zuständige Staatsanwaltschaft Wuppertal auf Anfrage: "Bei Todesfällen von Gefangenen in den Räumen der Justizvollzugsanstalt wird in der Regel neben einer Obduktion auch eine umfangreiche chemisch-toxikologische Untersuchung in Auftrag gegeben. Diese Untersuchungen nehmen generell viel Zeit in Anspruch. Solange die endgültigen Ergebnisse noch nicht vorliegen, wird das Verfahren formal noch nicht eingestellt." In den vorliegenden Fällen sei das der Zusammenhang.

DatumJustizvollzugsanstaltEreignis
03.02.2021RemscheidTod einer inhaftierten Person außerhalb der Haftanstalt durch natürliche Ursache, Ermittlungsverfahren eingestellt.
10.04.2021RemscheidTod einer inhaftierten Person, Ermittlungen zur Todesursache dauern an.
14.04.2021Wuppertal-RonsdorfTod einer inhaftierten Person durch Suizid, Ermittlungsverfahren eingestellt.
25.04.2021RemscheidTod einer inhaftierten Person, ungeklärte Todesursache, Ermittlungsverfahren eingestellt.
20.08.2021Wuppertal-RonsdorfVerdacht der sexuellen Übergriffe unter zwei inhaftierten Personen im Juni 2020, Strafverfahren dauert an.
23.09.2021Wuppertal-VohwinkelHaftraumbrand durch fahrlässigen Umgang mit einer Zigarette.
01.12.2021Wuppertal-VohwinkelTod einer inhaftierten Person durch Suizid, Ermittlungsverfahren dauert an.
08.12.2021Wuppertal-RonsdorfEin 17 Jahre alter Jugendlicher in Untersuchungshaft verstirbt durch Suizid.

Ein Jahresvergleich für einzelne Anstalten ist wenig aussagekräftig, weil die Zahlen einstellig sind und damit Schwankungen erwartet werden müssen. Über die Jahre 2017 bis 2021 addiert liegen die bergischen Gefängnisse anders als bei den Zahlen allein aus 2021 im mittleren Drittel der Rangliste: Remscheid am oberen Rand (viele schwere Vorfälle und womöglich eine Verschlechterung 2020/21), Wuppertal-Vohwinkel in der Mitte, Wuppertal-Ronsdorf am unteren Rand (weniger Vorfälle, 2021 anscheinend mehr als zuvor). Die Pandemie eignet sich als Erklärung schlecht, weil die Einrichtungen unterschiedlich betroffen sind.

Die Liste mit sogenannten besonderen Vorkommnissen im Strafvollzug 2021 des Justizministers fasst die schriftlichen und mündlichen Berichte an die Vollzugskommission des Landtags zusammen und hat insgesamt 56 Einträge. Der Vorfall vom 8. Dezember 2021 in Wuppertal-Ronsdorf war darin nicht enthalten. Die Anzahl der Haftplätze beträgt landesweit mehr als 18.000. Über Folgen der Coronavirus-Pandemie mit Infektionen und Erkrankungen bei Gefangenen und Bediensteten hat der Justizminister bei anderer Gelegenheit berichtet.

Landtags-Vorlage 17/6486: Erörterung über "Besondere Vorkommnisse im Strafvollzug im Jahr 2021"
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-6486.pdf


Suizidgefahr entsteht durch eine Vielzahl von Faktoren. Lassen Sie Personen nicht allein, die Gedanken über Selbsttötung äußern. Hilfe für alle vermittelt zu jeder Zeit die Telefonseelsorge unter ihren kostenfreien Telefonnummern:
0800 111 0 111 und 0800 111 0 222


Veröffentlicht 7. Januar 2022, zuletzt bearbeitet 6. März 2022.
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Nach derzeitigem Stand der Recherche ist offen, inwieweit die Schutzmaßnahmen der Justiz das Risiko von Suizid wirksam mildern. Dazu hole ich weitere Auskünfte ein. Zu den einzelnen Geschehnissen können später zusätzliche oder abweichende Informationen bekannt werden, die ich unverzüglich nachtragen werde.

Haben Sie Hinweise für mich? Ist etwas nicht ganz richtig, möchten Sie ein Thema vorschlagen, mir Informationen zuleiten oder etwas kommentieren? Ich freue mich über ihre Nachricht oder ihren Anruf:
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Symbolfoto: Pixabay

Zuletzt geändert am 06. März 2022